Strom B2B-Absatzportfolien in der Corona-Krise: Zwei offene Messer
Die Stromvertriebe in Deutschland stecken in der Klemme, besonders im B2B-Segment. Denn es treffen gleich zwei negative Effekte aufeinander:
Ein massiver Preisverfall und ein Nachfragerückgang bei den Gewerbe- und Industriekunden.
Die vor der Corona-Krise prognostizierten Strommengen für das Lieferjahr 2020 wurden bereits in den vorangegangenen Jahren am Terminmarkt eingekauft.
Durch den Nachfrageeinbruch baut sich bei vielen Vertrieben daher aktuell eine Long-Position auf, die zu sehr tiefen Preisen kurzfristig wieder abverkauft werden muss.
Das Ergebnis: Selbst für mittelgroße Absatzportfolien stehen mögliche Verluste in Millionenhöhe im Raum.
In den Nachrichten kursieren viele allgemeine Informationen zu Marktpreisen und Nachfragedaten, aber was bedeutet das konkret für ein Absatzportfolio eines Energieversorgers?
Preisentwicklung
Der durchschnittliche Spotmarktpreis für April 2020 liegt aktuell bei 17,86 €/MWh
(Stand 15.04.20, Base-Produkt). Bereits der Februar 2020 mit 21,93 €/MWh markierte den niedrigsten Wert aller Monate seit über 8 Jahren. Im April wird dieser Wert bisher noch einmal deutlich unterboten.
Gegenüber dem Preisniveau am Terminmarkt aus 2018/19 für das Lieferjahr 2020 ist der Preisverfall noch dramatischer, da die Terminpreise hauptsächlich in der Range 40-50 €/MWh lagen.
Nachfrage & Lieferverträge
Anfang letzter Woche fiel die Stromnachfrage um 14,3 %, verglichen mit dem Strombezug Anfang März und somit vor den Reaktionen der Industrie auf die Covid-19-Pandemie.
Der durchschnittliche Tagesstrombedarf in der Osterwoche lag rund 14 % unter dem Bedarf der Osterwoche von 2017. Expertenmeinungen zufolge kann die jährliche industrielle Stromnachfrage bei anhaltenden Schutzmaßnahmen um 10 % bis 20 % sinken.
Während der Finanzkrise 2008/09 wurde diese Schätzung mit einem Rückgang des Strombezugs aus der Industrie von 13 % getroffen. Energieintensivere Betriebe aus bspw. der Stahl- oder Chemieindustrie können auf Basis dieser Erfahrungswerte einen erhöhten Einbruch des Strombezugs von bis -37 % aufweisen.
Bei Vollversorgungsverträgen sind die EVU ohnehin komplett im Risiko bzgl. Abweichungen zwischen Prognose und tatsächlicher Liefermenge. Aus dem Markt erfahren wir allerdings, dass sogar Lieferverträge mit Toleranzbändern ggf. wenig Absicherung für EVU bieten,
da sich die Kunden (meist sehr große) auf höhere Gewalt beziehen und damit Recht behalten könnten.
Folgenabschätzung & Szenarien
Die INTENSE AG hat aus aktuellen Marktdaten und entsprechenden Annahmen ein Modell aufgesetzt, welches die finanziellen Effekte auf ein durchschnittliches Absatz- bzw. Beschaffungsportfolio zeigt.
Das vorliegende Modell beinhaltet folgende Annahmen:
- Die für das Lieferjahr 2020 historisch (vor der Corona-Krise) prognostizierten Absatzmengen wurden zwischen 01.01.2018 und 31.12.2019 am Terminmarkt vollständig beschafft bzw. preislich abgesichert.
- Zur Vereinfachung wird nur mit Base-Preisen bewertet.
- Die mögliche Performance der Termin-Beschaffung (Käufe) ist in verschiedenen Szenarien anhand des jeweiligen Quantils der Terminpreise im o.g. Zeitraum abgebildet.
Beispiel: Im 10%-Szenario wurde die komplette Energiemenge zu einem sehr günstigen Preis eingekauft, da 90% der Terminpreise im Beschaffungszeitraum darüber lagen. Dieser Fall kann getrost als „Best Case“ bezeichnet werden. Realistischer ist hier sicherlich das 50%-Szenario. - Als Indikator für das Preisniveau der Verkäufe (Long-Position wegen Nachfragerückgang) werden die aktuellen Spotmarktpreise (Mittelwert 01.02.-16.04.20) herangezogen.
Der dramatische Preisverfall zwischen Termin- und Spotpreisen wird in nachfolgender Grafik deutlich. Verluste sind in jedem Fall zu verzeichnen, egal wie günstig im Terminmarkt beschafft wurde.
Die Verluste in einem B2B-Stromportfolio mit bspw. 250 GWh Gesamtmenge pro Jahr (Planwert) sind beträchtlich. Je nach Szenario (Beschaffungs-Performance Terminmarkt vs. Nachfrage) liegen die Ergebnisse zwischen -350 T€ und -2,2 Mio. € – allein für das Lieferjahr 2020.
Vielen Unternehmen fehlen aktuell die Grundlagen für eine robuste Bewertung, da oft noch keine verlässliche Korrektur der Absatzprognose bis Ende 2020 (und darüber hinaus) vorliegt. In vielen EVU-Portfoliomanagement-Systemen und Prozessen mangelt es außerdem an der „mittelfristigen Sicht“ auf die Portfolien, also auf den Handelszeitraum zwischen Ende der langfristigen Termin-Beschaffung (meist vor Beginn des jew. Kalenderjahres) und der Spotmarktkorrektur (Tag vor Lieferung).
Sofern sich die Marktpreise allerdings nicht äußerst stark erholen, werden diese kalkulatorischen Verluste spätestens nach der Lieferung auch realisiert.
Von einer kurzfristigen und starken Erholung der Strompreise ist aktuell vor dem Hintergrund der Corona-Krise und weiteren Faktoren, wie z.B. der Preisentwicklung im Öl- und Emissionsmarkt, nicht auszugehen.
Auch auf der Nachfrageseite wird es, mindestens bis Ende 2020, unaufholbare Nachfrageeinbrüche geben, auch wenn sich die Wirtschaft schnell erholt.
Neben den Erholungseffekten in manchen Wirtschaftsteilen muss allerdings auch mit einigen Insolvenzen im B2B-Kundensegment gerechnet werden, was (weitere) sehr plötzliche Einbrüche der Absatzmengen nach sich ziehen würde.
Welche Konsequenzen lassen sich daraus ziehen und wie könnte sich der Markt verändern?Werden z.B. Risikoaufschläge massiv steigen?
Wie könnten krisensichere Produkte und Mechanismen aussehen?
Wie sollten zukünftige Vertriebs-/Handelsstrategien und -prozesse aussehen?
Auf diese und weitere Fragen werden wir in nachfolgenden Blog-Beiträgen zu diesem Themenkomplex eingehen.
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